2010/1 Unvollkommen unterwegs als Chance

Beim ME-Wochenende haben wir uns alle aufgemacht und sind als Paar, Priester oder Ordensmensch intensiv unterwegs gewesen. Wir sind weiterhin mit jedem Dialog, im gemeinsamen Gebet und in unserer Sexualität unterwegs auf das Ziel hin, die Liebe immer mehr zu leben.
Als Christen sehen wir das als unsere Berufung und als unseren Weg, das Evangelium zu konkretisieren.
Wir haben meist Vorstellungen davon, was gut und richtig wäre zu tun. Zwischen diesen Vorstellungen und unser Wirklichkeit gibt es immer eine Diskrepanz. Diese wird nie ganz verschwinden, das ist menschlich.

Wir haben erfahren, wie weit es uns bringt, wenn wir nicht stehen bleiben und uns zufrieden geben mit dem Erreichten, sondern Schritte gehen mit dem Ziel, den immer vorhandenen Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit zu verringern.
Auf unserem Weg erfahren wir Widerstände und Schwierigkeiten und diese können in unserer Unvollkommenheit begründet liegen. Es geht nicht um körperliche Merkmale und auch nicht um mangelnde Fähigkeiten. Es geht auch nicht um die Unterschiedlichkeit zwischen uns.
Wir sprechen über Unvollkommenheiten als Charakterzüge und zwar über solche, die ich bei mir selbst als Mangel erlebe. Wenn ich ehrlich mit mir bin, kann es sein, dass ich feststelle, dass ich unter ihnen leide und sie mir wehtun. Wir sind versucht, diese Unvollkommenheiten entweder zu überspielen oder mehr oder weniger energisch dagegen anzukämpfen. Beides dient nicht dem Leben in Beziehung, es kostet zu viel Energie und beinhaltet die Gefahr, dass wir resignieren. Unsere Unvollkommenheit anzuschauen bietet die Chance, anders mit ihr umzugehen. Sie anzunehmen heißt, das Leben mehr so zu sehen wie es wirklich ist.

Beim ME-Wochenende setzten wir uns mit unserer Unvollkommenheit bei der Einführung „Selbstbegegnung“ am Samstagvormittag auseinander.

Welche Charakterzüge könnten wir bei uns als Unvollkommenheiten wahrnehmen?

  • Ich habe sehr hohe Ansprüche und bin leicht enttäuscht, wenn sie nicht erfüllt werden.
  • Ich bin überempfindlich, meine Stimmungen schwanken stark.
  • Ich habe kein Durchhaltevermögen, gebe bei kleinen Schwierigkeiten auf.
  • Ich neige zu Wutausbrüchen aus nichtigen Anlässen.
  • Ich komme schwer in Schwung, neige zu Bequemlichkeit.
  • Ich meine alles alleine schaffen zu müssen und kann keine Hilfe annehmen.
  • Ich bin immer für andere da und kann nicht „Nein“ sagen.
  • Ich vergleiche mich immer mit anderen und muss besser sein als sie.
  • Ich passe mich nur an andere an und habe keine eigenen Meinungen.
  • Ich lebe planlos und impulsiv.
  • Ich bin abhängig davon, in Harmonie mit meinen Mitmenschen zu leben.

Wie gehen wir mit unseren Unvollkommenheiten normalerweise um?

Es könnte sein:

  • Dass wir sie zu überspielen versuchen.
  • Dass wir ihnen ein zu großes Gewicht geben und uns ständig selbst verurteilen.
  • Dass sie uns wie ein schmerzender Stachel sind, der weh tut, wenn wir damit in Berührung kommen.

Wenn wir wirklich mit dem Herzen glauben, dass Unvollkommenheiten menschlich sind, erleichtert uns das, sie zuzulassen und anzuschauen. Auch das Vertrauen, dass uns unser Partner/unsere Partnerin mit unseren Unvollkommenheiten liebt, hilft dabei.

Unsere Unvollkommenheit wirkt sich auch auf unsere Beziehung aus.

Eine Erfahrung von uns soll das konkretisieren.
Eine meiner (Heikes) Unvollkommenheiten ist meine Kritikempfindlichkeit.
Es war Samstagmorgen. Ich hatte schon vor einiger Zeit gefrühstückt und wollte einkaufen gehen. Bertram machte es sich beim Frühstück in der Küche gemütlich. Ich lief dreimal in die Küche hinein und wieder hinaus, um noch dieses und jenes für den Einkauf zu holen. Darauf hin sagte Bertram: „Das ist lästig.“ Ich erlebte mich total kritisiert und nicht gewürdigt in meiner Arbeit. Mein spontaner Gedanke war: Dein spätes Frühstück ist auch lästig. Ich habe viel zu tun und du schläfst aus. Meine spontane Reaktion wäre gewesen, gleich zum Angriff überzugehen. Mein Bedürfnis, für das ich kämpfen wollte, war der Selbstwert. Es hätte auch passieren können, dass ich meinem störenden Verhalten nach Bertrams Kritik ein viel zu großes Gewicht gegeben hätte und mich übermäßig dafür verurteilt hätte. So mit dem Gedanken: Ich tu ja alles, damit du mich wieder lieb hast.

Vielleicht auch, weil wir uns gerade in unseren Dialogen mit unserer Unvollkommenheit beschäftigten und mir meine Kritikempfindlichkeit deutlich vor Augen stand, kriegte ich noch so gerade eben die Kurve und konnte meinen spontanen Gegenangriff unterdrücken. Ich konnte meinen Blick auf Bertram richten, der sich auf ein gemütliches Frühstück gefreut hatte und mich angemessen, ohne Überbewertung meines Verhaltens, bei ihm entschuldigen.

In der Tat hatte ich (Bertram) mich an jenem Samstagmorgen auf ein gemütliches Frühstück gefreut und mich störte Heike Hin- und Hergerenne zunehmend mehr. Da nicht abzusehen war, wie lange das noch so gehen würde, habe ich doch meine Zurückhaltung und Bequemlichkeit überwunden und Heike gesagt, wie sehr es mich stört. Um Streit zu vermeiden, habe ich es bewusst nicht schärfer ausgedrückt. Besser wäre noch gewesen, ich hätte von meinem Ärger gesprochen. Eine meiner Unvollkommenheiten ist es, dass ich eher zu sehr zurückhaltend bin. Durch Heikes Kritikempfindlichkeit wird diese Neigung noch verschärft. In der Situation hatte ich mich dann doch entschlossen, etwas zu sagen, und war sehr überrascht, als ich später hörte, wie es positiv auf Heike gewirkt hatte.

Im Liebesbrief und Austausch habe ich gemerkt, dass ich vieles nicht mehr runterschlucken möchte. Ich möchte Heike von mir mitteilen können und wissen, wie ich ihr das am besten sagen kann, was mich bewegt, ohne sie zu verletzen. Ich konnte Heikes Entschuldigung dann gut annehmen.

Wenn ich einen Schwachpunkt in meinem persönlichen Leben gefunden habe, ist es wichtig zu wissen, wie ich gut damit umgehen kann.

Hilfreiche Schritte können dabei sein:

  • Es wagen, die Unvollkommenheiten anzuschauen.
  • Spüren, was das in mir auslöst.
    • Mich verletzlich zeigen, statt meine Unvollkommenheit verbergen zu wollen.
    • Die Einstellung aufgeben: „Ich bin wie ich bin und damit muss ich leben und musst auch du mit mir leben.“
    • Mit mir gnädig sein, mir meine Unvollkommenheit verzeihen, mich mit mir selber versöhnen.

In einer Einführung des ME-Wochenendes sagen wir: Gott macht keinen Mist! Wir sind eingeladen, dieses immer wieder zu glauben.
Die Chance für unsere Beziehung liegt darin, dass mein Partner/meine Partnerin mir gerade dann ihre Liebe zeigen kann, wenn ich mich unvollkommen erlebe. Und ich erfahre mich dann gerade besonders tief geliebt.
Auch in der Bibel finden wir diese Erfahrung. Paulus schreibt davon in 2. Korinther 12, 7-10. Er nennt seine Unvollkommenheit einen „Stachel im Fleisch“. Dreimal hat er Gott angefleht, diesen Stachel zu entfernen, so sehr leidet er darunter. Doch von Gott erfährt er: „Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit.“ Wir brauchen also unsere Unvollkommenheit, um uns als beziehungsbedürftige Menschen zu erleben, bedürftig für die Beziehung zu Gott und zu unseren Mitmenschen.

(Wir danken Margarete und Günter Joseph für ihren Dialoggruppenleitfaden zum Thema, aus dem wir einzelne Passagen übernommen haben. Heike und Bertram.)

Heike Schmitten-Kösler und Bertram Kösler


Dialogfragen

Unser gewöhnlicher, d.h. nicht bewusster, Umgang mit Unvollkommenheiten ist uns ein Wegweiser, sie aufzuspüren.

Dabei können uns folgende Fragen helfen:

  • Worüber schäme ich mich? Denke an eine konkrete Situation!
  • Welchen Charakterzug meiner Person würdest ich am liebsten verändern lassen, wenn dieses möglich wäre?
  • Über welches Verhalten möchte ich am liebsten nicht sprechen? Denke an eine konkrete Situation!
  • Über welches Verhalten von mir ärgere ich mich? Denke an eine konkrete Situation!
  • Wann habe ich mich von dir besonders tief geliebt erlebt? Beschreibe eine konkrete Situation!

Denkt auch an die Auswirkung auf eure Beziehung in jedem konkreten Fall! Das kann auch mit Schmerz verbunden sein.

Nachdem wir (Heike und Bertram) eine Unvollkommenheit gefunden hatten, haben wir gute Erfahrungen mit der mehrfachen Bearbeitung folgender Dialogfrage gemacht:

In welcher Situation in den letzten Tagen habe ich meine Unvollkommenheit erlebt?

Beschreibe die Situation in wenigen Worten!
Beschreibe ausführlich:

– Was habe ich spontan gedacht?
– Was habe ich spontan getan?
– Wie habe ich mich gefühlt?
– Wie fühle ich mich jetzt, wenn ich daran denke?

  • Wie fühle ich mich jetzt, nachdem du mir deine Unvollkommenheit mitgeteilt hast?
  • Wie fühle ich mich jetzt, nachdem ich dir meine Unvollkommenheit mitgeteilt habe?

Beitragsbild: Inge und Fritz Schätzle