2012/1 Verstehen

Als wir angefragt wurden, das Thema vorzustellen, haben wir zugesagt, denn es klang „verständlich“. Beim näheren Hinschauen tauchten aber auch viele Fragen auf, wie:

  • Spontan denken wir an das „Du“, aber ich muss auch mich selber verstehen.
  • „Ich kann dich verstehen“ oder „Ich fühle mich verstanden“ oder „Ich verstehe dich nicht“ oder „Ich verstehe das nicht“.
    Alles Sätze, die wir regelmäßig aussprechen. Welche Bedeutung haben sie für unsere Beziehung?
  • „Ich kann dich nicht verstehen“! Was dann? Wo liegt der Schlüssel?

Wir sind auf Spurensuche gegangen und konnten sehr froh Machendes erfahren. Denn „Ich verstehe dich“ – egal ob spontan oder nach langem Ringen – bringt eine Fülle von Gefühlen zum Klingen wie Freude, Dankbarkeit, Nähe, Zufriedenheit, Sicherheit, Zugehörigkeit, Geborgenheit, …

Trudi: Als du, Karl, in Erwägung zogst, den Chor zu verlassen, „konnte ich das nicht verstehen“. Ich hörte deine Argumente, hatte aber gute Gegenargumente bereit. Beide blieben wir auf unserem Standpunkt in der Hoffnung, der andere würde sich bewegen. Nach der Probe vermied ich die liebevolle Standardfrage: „wie war es“? Es war für mich ein klassischer Fall von „ich kann es nur hinnehmen, bestenfalls annehmen“.

Erst die Auseinandersetzung im Dialog half mir zu erkennen, dass in mir große Ängste und Fragen sind:

  • Dir gefällt die Arbeitsweise der Dirigentin nicht?
  • Meine Angst: warum ist er so unflexibel?
  • Bahnt sich da Altersstarrsinn an?

Seitdem unsere Kinder alle weit weg gezogen sind, ist der Chor ein wichtiges Bindeglied zum Dorf. Dein Choraustritt zieht automatisch den Verlust sozialer Kontakte nach sich und weckt in mir die Angst vor Vereinsamung im Alter.

Ich spürte sehr deutlich, wie groß in mir der Wunsch war, du mögest das berücksichtigen, d.h. du mögest deine Einstellung ändern. Es war kein Platz für „ich will dich verstehen“. Außerdem steht dann oft – so auch hier – die Angst, mich selber aufzugeben, wenn ich dich „verstehen“ will.

Hermanns Frage: „Was brauchst du wirklich?“ machte mir klar, dass ich die Verantwortung für das soziale Eingebundensein im Dorf auf deine Schultern ablegte. Die Erkenntnis, dass ich mich von einer Angst leiten lasse hat mir geholfen, sie los zu lassen und offen zu sein für das, was du lebst.

Karl: Manchmal muss ich zugeben, dass ich mich selber nicht richtig verstehe. Wie also soll Trudi mich verstehen?? Folgerichtig gehe ich dann in mich und forsche nach dem, was ich lebe, was mich umtreibt, wer ich in dem bestimmten Punkt augenblicklich bin. Mir wird deutlich bewusst, dass ich mitten im Wochenende angelangt bin bei der Einführung über die Selbsterkenntnis! Es dämmert mir, dass der andere mich nur verstehen kann, wenn ich mich zuerst selber verstehe. Die Entscheidung, Trudi zu lieben, beinhaltet auch, mich selber zu erforschen und ihr zu sagen, wer ich bin. „ICH BIN VOR DIR FÜR MICH VERANTWORTLICH“.

Damit unser Ja zueinander echt wird, müssen wir uns – selbst und einander – immer wieder kennen lernen.

Hermann: Ich verstehe heute besser, wie mein Inneres beschaffen ist und freue mich darüber, zu wissen, wie Gefühle und Grundbedürfnisse bei mir funktionieren und wie ich täglich hinzu lerne, noch besser damit umzugehen. Verstehen ist dann für mich: erkennen dessen, was in mir lebt und mich damit auseinandersetzen. Es ist ein Schauen nach meinen Gefühlen und ein Suchen nach meinen Grundbedürfnissen; für das Ernähren meiner Grundbedürfnisse bin ich verantwortlich.

Bei einem Priestertreffen in Montenau sagte ich meinen Mitbrüdern meine Not mit der Vorbereitung für die ME-Zeitung. Ich schlug ihnen vor, mit mir über das Thema ‚Verstehen’ zu reden und zu schreiben. Ich lebte Not an Verbundenheit und Angenommensein in dieser Arbeit. Mein Schritt auf die Mitbrüder zu war Nahrung für meine Grundbedürfnisse ‚Geliebt sein wollen’ und ‚meinen eigenen Wert tiefer erfahren’. Ich war danach froh, zufrieden, verbunden und ich erlebte mich verstanden und geliebt.

Erfolgreiche Schritte ermutigen mich, immer wieder nach diesem Prinzip zu handeln. Ein solches Verstehen meiner selbst bringt mir Leben. In den Grundbedürfnissen liegt für mich auch ein Fingerzeig /Hinweis Gottes verborgen. Gott möchte ja, dass ich mehr und mehr Hermann werde. Ich habe dies auch selbst in der Hand, wenn ich mehr und mehr verstehe, wie ich für mich vor euch verantwortlich bin. Ein solches Handeln bringt mir eine Freiheit, die ich nicht ahnen konnte.

Jeder versteht dann sehr gut, wie Verstehen des anderen eine Entscheidung ist, ihn verstehen zu wollen, ihm zuhören zu wollen und ihm Fragen zu stellen, die ihm helfen, sich zu öffnen. In der MEGemeinschaft streben wir eine solche Offenheit und ein solches Verstehen an, das befreiend ist.

Pfarrer Hermann Pint mit Trudi und Karl Lux


Besinnungsfragen:
  • Ich bin zufrieden/unzufrieden. Worauf führe ich meine Stimmung zurück?
  • In einer bestimmten Situation handle ich sehr spontan. Kann ich mir mein Verhalten erklären?
  • Kann ich annehmen, dass ich dich nicht immer verstehen kann? Wie gehe ich damit um?
  • Mehr von dir zu wissen, hilft mir auch, dich besser zu verstehen. Ist das für mich ein Schlüssel zu dir?
  • Wie reagiere ich, wenn ich dein Handeln nicht verstehen kann? • „Ich will dich nicht belasten“. Diese Einstellung macht Verstehen unmöglich, denn der Partner weiß nicht, was in mir brodelt.
Dialogfragen:
  • Ich verstehe dich. Wfim, wenn ich dir das sage?
  • Ich verstehe dich nicht. Wfim, wenn ich dir das sage?
  • Das verstehe ich nicht. Wfim, wenn ich dir das sage?
  • Ich verstehe dich nicht, sage aber nichts aus Angst, einen Konflikt auszulösen. Wfim?
  • Meine Angst (welche) hindert mich, dir wirklich zuzuhören? Wfim, wenn ich dir das schreibe?
  • Ich will dich nicht belasten, also sage ich dir nicht, was in mir brodelt. Wfim?
  • Meine Selbsterkenntnis hat mir geholfen, dich besser zu verstehen. Wfim, wenn ich dir das schreibe?

Titelbild: Rita Karrer, Malerin, Regensburg