2012/3 Verzeihen – Vergeben

Schon seit längerer Zeit beschäftigt mich die Stelle in der Bibel „siebzigmal siebenmal“, (Mt. 18,22).

Da trat Petrus zu IHM: „Herr, wenn mein Bruder sich gegen mich verfehlt, wie oft soll ich ihm vergeben? Bis zu siebenmal?“ Jesus antwortete ihm:“ Ich sage dir, nicht bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal.“

Ich (Bärbl) frage mich: „Warum soll immer ich vergeben, wenn ich doch verletzt bin?“ Und: „Kann ich es mir leisten nicht zu vergeben?“

Über einen längeren Zeitraum wurde mir bewusst, dass ich in Frieden älter werden möchte. Mein Wunsch ist es, mich dahin zu verändern, indem ich nachdenke, warum reagiere ich so beleidigt, erregt, enttäuscht, verärgert …? Hilfreich dazu ist für mich in manchen Situationen die Frage, ob das, worüber ich beleidigt bin, in 3 Monaten noch aktuell und wichtig wäre. Zum Beispiel wenn Gerhard aufgetragene Besorgungen nicht oder nur teilweise getan hat, da er anderer Meinung war. So kommt bei mir an, „ich bin es ihm nicht wert“ – es macht mich traurig oder auch ärgerlich.

Zu erkennen, dass ich baldmöglichst vergeben sollte, ohne mich von meinen Gefühlen und deren Auswirkungen (Schmollen, Rückzug …) leiten zu lassen, hilft mir entspannter damit umzugehen.

Andererseits möchte ich Gerhard auch nicht verletzen, wenn ich verletzt bin. Aus der Verletzung heraus handle ich manchmal mit Vorwürfen, Einforderungen, Nachtragen oder Ungerecht sein. Dann sollte ich mich baldmöglichst entscheiden um Verzeihung zu bitten und nicht auf „mein Recht“ zu pochen. D.h. ich sehne mich danach, dass die verzeihende Haltung „siebzigmal siebenmal“ immer mehr zu meinem Lebensstil wird. In diesem Prozess bin ich immer noch mittendrin, auch da mir bewusst wurde, dass „Nichtverzeihen“ mich und meinen Partner „unfrei“ macht.

Das „Verzeihen als Lebensstil“ fordert mich, Gerhard, immer wieder heraus. Habe ich nicht das Recht, wenn ich verletzt bin, darin zu verharren und es zu zeigen in Form von Rückzug und Schweigen? Gefühle wie Zorn, Wut, Frust, Bitterkeit halten mich gefangen.

Paulus schreibt: „Lasst die Sonne …. (Eph. 4,26). Gott weiß, wie wichtig und heilsam es für uns ist, versöhnt in den Schlaf zu gehen. Warum fällt es dann mir, Gerhard, so schwer, zu verzeihen? Vielleicht sehe ich mich gerne in der Rolle des Opfers. „Seht her, wie mir mitgespielt wurde! Ich kann nichts dafür, ich bin unschuldig“.

Mir ist bewusst, ich sollte sofort, vergeben; mich entscheiden, Verzeihung zu gewähren, obwohl es vielleicht noch weh tut. Hier habe ich mächtig mit meinen Gefühlen (Angst, Stolz, Wut, Selbstmitleid, … ) zu kämpfen und komme oft an meine Grenzen.

Wir sind dankbar für die ME-Gemeinschaft. Hier haben wir ein „Werkzeug“ bekommen, den schriftlichen Austausch, und obwohl wir keine eifrigen „Schreiber“ sind, können wir hier Gedanken, Gefühle austauschen – was uns bewegt und bedrückt – die verbal bei uns oft zu neuen und längeren Diskussionen und Verletzungen führten.

Es ist uns vom Verstand her wichtig geworden sich zu entscheiden, dem anderen zu vergeben und sich nicht von unseren Gefühlen leiten zu lassen. Das ist ein Weg der uns nicht immer leicht gelingt. Wenn wir Verzeihen, bedeutet dies, wir überwinden unseren Ärger, Frust, Verletzt sein, Enttäuschung und akzeptieren das Verhalten des anderen/Partners als „Geschehen“. Das heißt aber nicht, dass wir dies gut oder richtig finden. Wer vergibt, löst sich von Bindungen. Bei Nichtverzeihen trifft, wenn ich genauer hinschaue, Nichtvergebung (Bestrafung) auch mich selbst, ich bin dann innerlich unfrei.

Z.B. ich, Gerhard, hatte unseren letzten Hochzeitstag total vergessen. Bärbl war schon enttäuscht. Hätte sie mir nun große Vorwürfe gemacht und sich verletzt zurückgezogen, wäre es eine Art von Bestrafung nicht nur für mich, sondern auch für sie geworden. Der Abend hätte dann in Disharmonie und Angespanntheit geendet.

So hat sie aus ihrer Enttäuschung heraus mit der Frage beim Abendessen: „Was haben wir denn heute für einen Tag?“ mir die Brücke gebaut. Ich konnte meine Vergesslichkeit bedauern und um Verzeihung bitten, Vergebung annehmen und der Abend endete in Harmonie.

„Schuldfrage, nach Anthony de Mello

Ein Passant ging die Straße entlang. Plötzlich stürzte ein Mann aus einem Hauseingang, so dass die beiden heftig gegeneinander prallten. Der Mann war furchtbar wütend, schrie und schimpfte und beleidigte den Passanten. Daraufhin verbeugte sich dieser mit einem milden Lächeln und sprach: „ich weiß nicht, wer von uns an dem Zusammenstoß die Schuld trägt. Ich bin aber nicht gewillt, meine kostbare Zeit mit der Beantwortung dieser Frage zu vergeuden. Deshalb: Wenn ich die Schuld trage, entschuldige ich mich hiermit und bitte Sie für meine Unachtsamkeit um Verzeihung. Falls Sie der Schuldige waren, können Sie die Sache einfach vergessen.“ Er verbeugte sich noch einmal und ging mit einem Lächeln im Gesicht seines Weges.“

Bärbl und Gerhard


Dialogfragen:
  • Welche Gedanken und Gefühle bewegen mich, wenn ich den Satz Jesu … lese? Wfim, wenn ich dir das heute schreibe?
  • Welche Gedanken, Gefühle und evtl. Erinnerungen steigen in mir auf, wenn ich die Worte Verletzung – Vergebung lese? Wfim bei meiner Antwort?
  • In welchem Bereich bin ich besonders empfindlich und verletzlich? Wfim, wenn ich dir das heute anvertraue?
  • Welche Wunde oder Verletzung „nagt“ noch in mir? Wfim, wenn ich dir das schreibe?
  • Was hilft mir, was brauche ich, um diese Verletzung zu heilen? Wfim bei meiner Antwort?
  • Wenn ich an meine Kindheit denke: Welche alte Verletzung schmerzt noch heute? Wfim, wenn ich dir das schreibe?
  • Wie hat diese Verletzung mein Verhalten geprägt und beeinflusst noch heute meine Beziehung zu dir? Wfim bei meiner Antwort?
  • Ich halte Rückschau: In welcher Situation konnte ich dir / konntest du mir Vergebung schenken? Welche Auswirkungen hat das auf unsere Beziehung? Wfim, wenn ich heute daran denke? Wfim, wenn ich dir das schreibe?
  • In welcher Situation konnte ich dir / konntest du mir bislang noch nicht vergeben? Welche Auswirkungen hat das auf unsere Beziehung? Wfim, wenn ich mir das heute bewusst mache? Wfim, wenn ich dir das schreibe?
  • Ich denke an eine konkrete Situation: Ich habe dich verletzt. Das tut mir Leid. Ich bitte dich um Vergebung! Was lösen diese Sätze in mir aus? Wfim, wenn ich dir das heute schreibe?
  • Ich denke an eine konkrete Situation: Ich vergebe dir! Was löst dieser Satz in mir aus? Wfim, wenn ich dir das heute schreibe?

Titelbild: Rita Karrer, Malerin, Regensburg