2021/1 Wut

Wut – was für ein interessantes Thema! Da hatten wir beide Handlungsbedarf!
Damit ist aber nicht nur die weißglühende gemeint, sondern Wut quasi als Überschrift der Gefühlsfamilie „Ärger“. Das kann auf der untersten Ebene einer Skala von 1-10 schon der Fussel auf dem Pullover sein, der mich stört.

In dem Buch „Gefühle & Emotionen – Eine Gebrauchsanweisung“ von Vivian Dittmar haben wir erfahren, dass Wut nicht nur zerstörerisch wirkt und verletzt, sondern dass sie auch eine Kraft ist, die Klarheit schafft, die uns motiviert, etwas zu ändern.
Wütend werden wir, wenn wir etwas als „falsch“ interpretieren. Dazu muss ich einen klaren Standpunkt haben, denn im absoluten Sinn gibt es kein Richtig oder Falsch – alles kann von zwei Seiten aus betrachtet werden. Aber wenn ich es als falsch interpretiere und bereit bin, dafür einzustehen, dann kann ich meine Wut als Kraft einsetzen. Ich setze meine Grenzen und stehe für meine Bedürfnisse ein. Indem ich Position beziehe, entscheide ich auch, wer ich bin – und werde von meinen Mitmenschen ernst genommen.


Bei der Wutkraft geht es nicht nur um die ganz großen, weltbewegenden Dinge, sondern beginnt ganz klein. Wenn ich den Fussel auf dem Pullover falsch empfinde, zupfe ich ihn weg, wenn ich schmutzige Zähne als falsch empfinde, putze ich sie. Wut ist also die Kraft, die Handlung ermöglicht.
Fehlt uns die Wut, weil wir es jedem recht machen wollen, beziehen wir keine Position, drücken wir uns vor der Verantwortung, für uns zu sorgen. Wir reagieren stattdessen passiv mit Trauer und Hilflosigkeit, trödeln und verschieben, halten uns nicht an Abmachungen und manipulieren vielleicht oder versuchen, durch Tränen etwas zu erreichen. Weigern wir uns, etwas klar als „falsch“ zu beurteilen, nehmen wir uns auch die Möglichkeit, etwas als „richtig“ anzuerkennen und können uns somit auch nicht mehr richtig freuen.
Zuviel Wutkraft ist jedoch genauso kontraproduktiv. Für Situationen, die ich nicht ändern kann, ist Wut die falsche Kraft. Ein Zuviel an Wut entsteht auch, wenn ich eine Situation nicht nur als „für mich falsch“ interpretiere, sondern als „absolut und für alle falsch“. Ein jeder von uns kennt solche Interpretationen. Es ist gut, dass es Dinge gibt, die sehr viele Menschen als „falsch“ empfinden – aber selbst diese Dinge finden wiederum Andere „richtig“ – weil eben wirklich jede Medaille zwei Seiten hat.

Andrea: Ich durfte zu Hause meine Wut nicht offen zeigen. Wenn ich einen Raum türenschlagend verlassen hatte, musste ich zurück und die Türe noch einmal – diesmal aber leise – schließen. Später habe ich das dann dafür genussvoll ausgelebt, wenn ich mich über Karli oder die Kinder geärgert hatte. Bei bestimmten Menschen, etwa meinem Vater oder meinem Chef, traute ich mich dafür gar nicht, meine Meinung zu sagen.
Und wenn unser Großer wütend war, war es mir nahezu unmöglich, auszuhalten, was ich selbst nicht gedurft hatte.
Karli gegenüber lebe ich heute meinen Ärger meist aktiv, ich spreche also Dinge an, die mich stören. Das kann weniger verantwortungsvoll sein, so wie neulich, als ich bemerkte „Gut, dass du einen Grund gefunden hast, den Rasen nicht zu mähen!“ Oder ein anderes Mal besser: „Ich muss dich jetzt leider mit meinem Ärger konfrontieren und möchte, dass du mir zuhörst . . .“ und dann eine sachliche Ich-Botschaft sende. Vor allem bei Anderen neige ich aber immer noch dazu, meinen Ärger zu unterdrücken, wenn ich Angst vor unbequemen Reaktionen habe. Hinter beidem steckt das emotionale Grundbedürfnis nach „Geliebt werden“. Wenn ich sage, was mich stört, dann deshalb, weil ich ernst genommen und verstanden werden will. Sage ich nichts, dann weil ich die Harmonie nicht stören will.

Karli: Mein Vater bekam immer regelrechte Wutanfälle, wenn ihm etwas nicht passte. Das machte uns Kindern Angst. Später, als wir älter waren, kamen mir diese Anfälle albern vor und ich musste mir das Lachen verkneifen. Meine Mutter war die Ruhigere und Zurückhaltende. Wir Kinder konnten sie aber auch zur Weißglut bringen, so dass sie schon mal ausrastete. Gegenüber meinem Vater durften wir Kinder wohl keinen Ärger oder Wut zeigen, wenn es ihn betroffen hat – ich denke, wir hätten es uns auch gar nicht getraut. So wie mein Vater wollte ich nicht werden. Also halte ich mich mit meiner Wut zurück, möchte sie nicht zeigen. Ich habe mir eher meine Mutter als Vorbild genommen.
Daher gehe ich mit meiner Wut meist passiv um. Das zeigt sich, indem ich mir übertragene Aufgaben vor mir herschiebe. Dabei kann es passieren, dass ich sie aus dem Blick verliere und vergesse. Von Andrea darauf angesprochen, versuche ich mich herauszureden oder zweifle an, dass wir das so besprochen haben.

Andrea: Da ich oft Angst habe, dich zu verletzen und als nörglerisch dazustehen, sage ich eine ganze Weile nichts wenn mich etwas stört, obwohl es in mir rumort. Wenn ich dann aber etwas sage, dann kommt es in einer Form, die du nicht annehmen kannst. Darüber bin ich dann verärgert – gleichermaßen über dein Unverständnis, als auch über mein Unvermögen, es dir liebevoll zu sagen. Das führt dann auch dazu, dass ich das nächste Mal noch mehr Angst habe, etwas zu sagen und noch verkrampfter bin.

Karli: Wenn so eine Wutattacke von Andrea auf mich herein strömt, bin ich erst mal erschüttert und deprimiert „Was habe ich jetzt schon wieder falsch gemacht?“, denke ich. Ich reagiere gereizt und frustriert und ziehe mich zurück.

Andrea: Weil wir uns jetzt ja schon eine Weile mit dem Thema beschäftigt hatten, kann ich Karli inzwischen nach seinem Ärger fragen. Und ich spüre in mich rein, wie sich der Ärger anfühlt. – Das ist ein warmes, kribbelndes Gefühl an einer bestimmten Stelle im Bauch. -Dadurch wird er sofort weniger und wir können besser miteinander ins Gespräch kommen.

Karli: Mir hilft das, wenn Andrea mich nach meinem Ärger fragt. Dann kann ich mich entscheiden, ihr zuzuhören, obwohl ich ärgerlich bin. Hilfreich war auch der Druck, sich für die Zeitung mit dem Thema auseinandersetzen zu müssen. So sind wir bei einer Situation ins Gespräch gekommen und ich konnte ihr meine Verwunderung sagen, dass sie immer „so lange“ sauer ist. Dadurch habe ich von ihr erfahren, dass ihr Ärger vergeht, sobald sie sich verstanden fühlt.

Andrea: Mir hat da auch Karlis Erkenntnis geholfen, dass bei mir der Wert „Gerechtigkeit“ hinter meinem Ärger steckte. Da habe ich mich verstanden erlebt.

Etliche Wochen später habe ich, Andrea, eine interessante Erfahrung gemacht, als ich wieder meiner Wut in mir nachspürte: Auf einer nervigen Autofahrt fragte ich Karli etwas zum Radioprogramm. Seine Antwort ging in der Musik und dem Motorengeräusch unter. Als ich nachfragte, schrie er die Antwort so laut, dass nicht nur ich zusammenzuckte, sondern auch Sohn und Fast-Schwiegertochter hinten aufwachten. Zwar machte ich schon direkt darauf noch eine vorwurfsvolle Bemerkung, ließ ihn dann aber in Ruhe, da er ja schließlich mit dem Fahren beschäftigt war. Aber in mir gärte es. Nach einiger Zeit ließ ich Karli dann wissen, dass ich am liebsten aussteigen würde, weil ich so sauer sei. Karli aber blieb wortkarg und konzentrierte sich auf‘s Fahren. Und ich horchte in mich hinein, spürte nach, wo ich die Wut spürte und konzentrierte mich darauf. Nach einer ganzen Weile veränderte sich das Gefühl – ich spürte, dass ich traurig war. „Trauer ist die Kraft, die mir hilft, anzunehmen, was ich nicht ändern kann“, dachte ich. Das fand ich tröstlich und ich konzentrierte mich auf das Gefühl. Und wieder nach längerer Zeit spürte ich ein neues Gefühl: Dankbarkeit, dass Karli uns durch den dichten Verkehr nach Hause bringt. Ich war verblüfft, wie ich ganz alleine mit meiner Wut fertig geworden war. Und am nächsten Morgen konnten wir auch noch gut darüber reden.

Ein immer wiederkehrendes Thema bei uns ist, dass wir in die Mutter- und Sohn- Rollen rutschen: ich fordere oder meckere und Karli mauert oder reagiert unwillig. Bei mir steckt dahinter das Bedürfnis nach Verbundenheit. Ich wünsche mir, dass wir uns beide für die Arbeiten in Haus und Garten verantwortlich fühlen. Funktioniert das nicht, fordere ich erst, nach einer Weile wird der Ton dann schärfer. Verantwortlicher damit umgehen hieße, mein Tempo zu drosseln, mich zurück zu nehmen und Karli Zeit zu lassen, eigene Ideen zu entwickeln. Eigenständigkeit leben, indem ich was Anderes tue, bis er soweit ist. Beim Bau unseres neuen Tomatenhauses hat das bereits geklappt.

Karli: Wenn Andrea mir was zu Erledigung aufträgt, wie zum Beispiel die Wurzelausläufer von Flieder und Zierquitte im Zaum zu halten, damit sie nicht den ganzen Garten überwuchern, muss das aus meiner Sicht nicht so schnell erledigt werden. Ich schiebe es vor mir her, bis ich es möglicherweise aus dem Blick verliere. Wenn sie mich darauf anspricht, ärgere ich mich und reagiere trotzig – im Beispiel mit dem Flieder konnte mich nicht daran erinnern, dass ich diese Aufgabe übernehmen sollte. Ich sehe mich dabei in meinem Grundbedürfnis nach Eigenständigkeit bedroht. Durch meine Passivität dränge ich Andrea in die Rolle der Fordernden. Verantwortlicher wäre es, wenn ich mehr Verbundenheit leben würde. Ich könnte ihr sagen, dass ich im Moment etwas anderes machen möchte und mit ihr darüber reden, wann es besser passt. Um es nicht zu vergessen, könnte ich mir eine ToDo-Liste anlegen.

Andrea: Über die Erkenntnis, dass wir die Wut brauchen, um handeln zu können, bin ich, Andrea, erleichtert. Das motiviert mich, jetzt doch öfter zu meinem Ärger zu stehen. Ich traue mich inzwischen sogar, manchmal meinem Vater oder meinem Chef zu widersprechen!

Karli: Ich bin überrascht, dass es die Wut ist, die mich zum Handeln motiviert. Das erleichtert es mir, sie anzunehmen und nicht nur als etwas Negatives zu empfinden. Daher bin ich zuversichtlich, dass ich meine Wut in Zukunft mit anderen Augen sehe.

Wir sind dankbar, dass uns die Schriftleitung zu diesem Impuls herausgefordert hat, denn wir sind daran ein ganzes Stück gewachsen. Wir laden euch deshalb ein, zu den Fragen auf der Rückseite Dialog zu schreiben.

Schalom
Andrea & Karli Wegner aus Schwabach bei Nürnberg


Dialogfragen:

  • Wie wurde bei uns zu Hause mit Wut umgegangen? Wfim bei meiner Antwort?
  • Welche Auswirkungen hat der Umgang mit Wut in meinem Elternhaus auf meinen Umgang mit Wut heute? Wfim, wenn ich mir das bewusst mache?
  • Ich schaue auf eine Situation in den letzten Tagen – welches Gefühl steckt hinter meiner Wut?
  • Wfim beim Gedanken, dich mit meiner Wut zu konfrontieren?
  • Ich sage lange nichts, aber irgendwann explodiere ich – wfim, wenn ich mir das bewusst mache?
  • Lebe ich meinen Ärger eher passiv oder eher aktiv? Ich schaue auf eine konkrete Situation. Wfim, wenn ich mir das bewusst mache?
  • Wfim, wenn du (oder die Kinder / oder jemand anders) wütend bist (ist)?
  • Ich schaue auf eine Situation, in welcher ich nicht verantwortungsvoll mit meiner Wut umgegangen bin. Wfim, wenn ich daran denke?
  • Ich schaue auf eine Situation, in welcher ich verantwortungsvoll mit meiner Wut umgegangen bin. Was hat mir dabei geholfen? Wfim, wenn ich daran denke?
  • Ich schaue auf eine immer wiederkehrende Situation: Welches emotionale Grundbedürfnis (Verbundenheit/Freiheit) lebe ich zu viel, welches zu wenig? Wie kann ich in Zukunft verantwortlicher damit umgehen? Wfim bei meiner Antwort?
  • Wfim bei der Erkenntnis, dass meine Wut mich zum Handeln motiviert?

Titelbild: Monika Weithmann-Kraus & Franz Kraus