Angst – eine der 4 Gefühlsfamilien
Angst ist ein Grundgefühl, das wir in Situationen empfinden, die wir als bedrohlich wahrnehmen. Diese Angst kann in uns Stress, Nervosität und Schlafstörungen auslösen. Wir erleben Angst, wenn unser Bedürfnis nach Sicherheit nicht erfüllt ist. In der Gefühlsliste, die wir an unserem ME-Wochenende erhielten, finden wir eine große Anzahl von Ausdrücken, die alle der Gefühlsfamilie Angst zugeordnet sind. Wir waren damals erstaunt über die vielfältigen Möglichkeiten Angst auszudrücken.
Die Bezeichnung für die Angst können uns schon verraten, wie stark das Gefühl ist. Angst wächst in der Reihenfolge: Lampenfieber -> Befürchtung -> Besorgnis -> Beklommenheit -> Bangigkeit -> Kopflosigkeit -> Schrecken -> Entsetzen -> Panik.
Angst zeigt sich auch in körperlichen Reaktionen wie z.B. höherer Herzfrequenz, steigendem Puls oder Schwitzen.
Es gibt keinen Menschen, der frei von Angst ist. Angst ist weder gut noch schlecht – so wie wir es im ME-Wochenende von allen Gefühlen gelernt haben. Es geht darum, die Angst wahrzunehmen und angemessen und verantwortlich mit ihr umzugehen.
Angst vor Gefahr
Angst kann uns als Signal vor einer Gefahr dienen. Evolutionsgeschichtlich hat die Angst eine wichtige Funktion als ein die Sinne schärfender und Körperkraft aktivierender Schutz- und Überlebensmechanismus, der in Gefahrensituationen ein angemessenes Verhalten (fliehen oder kämpfen) einleitet. Heute geht es eher darum, vorsichtig zu sein und uns abzusichern.
Angst rettet uns ständig das Leben, z.B. wenn wir auf der Straße nach rechts und links schauen, uns auf einem steilen Weg am Geländer festhalten oder bei einer Lungenentzündung Antibiotika schlucken. Ohne dass es uns immer bewusst ist, führt uns Angst durch die Gefahren des Lebens.
Angst ist die Motivation, vorzusorgen und vorsichtig zu sein z. B. Versicherungen abschließen, gesunde Ernährung, Sport treiben etc. Wir versuchen also Situationen, die Angst machen zu vermeiden, in dem wir uns „Sicherheit kaufen“. Dennoch bleiben Ängste: Existenzängste, Versagensängste, Prüfungsängste, Verlassenheitsängste, Angst vor Krankheit oder Arbeitslosigkeit und Angst um Kinder oder Eltern. Auch spüren wir die Angst, vom Partner durch Tod getrennt zu werden.
Angst vor Unbekanntem
Angst befällt uns aber auch vor Unbekanntem, denn würde sie lediglich nur vor Gefahren warnen, würde sie mit zunehmender Absicherung immer kleiner werden. Wenn ich aber in diesem Fall „vorsorge“ und dieser unbekannten Situation ausweiche, begrenze ich mich selbst und nehme mir die Möglichkeit, Neues auszuprobieren. Dann hat Angst eine lähmende Wirkung und sie bleibt.
Eine positive Reaktion auf diese Angst vor Unbekanntem ist der Mut: bereit sein, Neues wagen und daran wachsen. Wenn wir mutig sind und Neues wagen, erweitern wir damit unsere Komfortzone, unseren Radius und unseren Handlungsspielraum. Wir wachsen damit über uns selbst hinaus und entwickeln uns. Zu dem Mut gehören auch Vertrauen und Glauben: ein gesundes Selbstvertrauen, das Vertrauen auf dich, meinen Partner/meine Partnerin und der Glaube an den guten Gott.
Angst als Inbegriff von Aufregung und Abenteuer ist eine Quelle positiver Kraft. Zum Beispiel ist das Lampenfieber vor einem Auftritt positiv und anstachelnd. Es erfüllt uns mit Energie und Präsenz, gleichzeitig sind wir hellwach, aufmerksam und vorsichtig.
Durch die Corona-Pandemie sind bei vielen von uns völlig überraschend Ängste neu aufgetaucht, wie z.B. die Angst vor Einsamkeit. Oft haben uns diese Ängste auch gelähmt, aber dann wurde auch viel Kreativität freigesetzt. So haben wir in der ME-Gemeinschaft z.B. gelernt, mit Hilfe von Videokonferenzen Kontakte auch über große Entfernungen zu halten und dabei Nähe und Verbundenheit zu erleben.
Angst vor Unbekanntem hat somit Chancen und Risiken:
Chancen | Risiken |
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Helmut:
Neue Situationen und Veränderungen machen mir oft Angst, wie z.B. vor zwei Jahren, als der Wechsel in den Ruhestand auf mich zukam. Ich bin dann aufgeregt, nervös und unsicher. Meist versuche ich das erst mal zu „überspielen“ und spiele meinem Aushängeschild entsprechend die Rolle des starken Helmut. Dann aber versuche ich, den Entscheidungen aus dem Weg zu gehen und bin unschlüssig und zögerlich. Früher oder später kommt der Punkt, an dem ich dem Neuen nicht mehr ausweichen kann oder will (wenn ich den starken Helmut spiele). Dann rede ich mir innerlich gut zu, versuche mich möglichst gut vorzubereiten und gehe mit Anspannung, Aufmerksamkeit und Erregung das Neue mit Lampenfieber an.
Eva:
Da uns beiden Sicherheit wichtig ist, haben wir uns abgesichert gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit und Überschwemmungen. Ich habe jedoch mit der Zeit erkannt, dass dies keinen hundertprozentigen Schutz darstellt, aber es beruhigt mich. Beim Bearbeiten des Impulses war für mich das eigentliche Aha – Erlebnis zu erkennen, dass ich ganz oft Angst vor Unbekanntem habe. Ich habe schon immer gemerkt, wie unruhig ich z. B. vor Veranstaltungen und Seminaren war, die ich alleine besucht habe. Ich frage mich dann: Komme ich in Kontakt mit den Teilnehmern? Kann ich den Vorträgen inhaltlich folgen? Und obwohl mich diese Selbstzweifel emotional sehr mitgenommen haben, hat es mich aber nicht davon abgehalten, mich immer wieder zu solchen Veranstaltungen anzumelden. Zu groß ist meine Neugier und Interesse an den verschiedenen Themen. Ich habe mit der Zeit aber gemerkt, dass auch andere Teilnehmer nervös sind. Ich bin also nicht allein mit diesem Gefühl. Das hilft mir, meine Aufregung zuzulassen und zu schauen, was kommt.
Wenn ich es wage, den Schritt in Unbekanntes zu tun, dann werde ich geübter im Umgang damit, gewinne mehr Selbstsicherheit, lerne immer mehr zu dem zu stehen, was mir wichtig ist, und werde innerlich ruhiger und zuversichtlicher. Wie ich rückblickend erkenne, ist es ein Prozess, eine Entwicklung, die ich da erlebt habe.
Helmut:
Als im Pfarrblättchen eine Männer-Kochgruppe angekündigt wurde, war ich Feuer und Flamme und meldete mich sofort an. Beim Kochen machte es mir stets Stress, wenn ich mehr als zwei Dinge gleichzeitig im Auge behalten musste. Motiviert hatte mich die Vorstellung, dass wir in dieser Gruppe nur Männer sind, ohne Frauen, die seit Jahrzehnten Übung in der Küche haben. Als es dann zum ersten Treffen kam, hatte ich aber doch Angst, dass sich lauter Hobbyköche treffen. Ich befürchtete, dass ich nur die Hilfsarbeiten (Schneiden und Spülen) erledigen könnte und den Herd den „Profis“ überlassen müsste. In der Vorstellrunde wurde klar, dass tatsächlich einige Teilnehmer sehr regelmäßig ihre Familien bekochen. In Zweiergruppen haben wir dann alle erst mal eine Bruschetta hergestellt. Es gab kein Rezept, nur eine Auswahl an Zutaten und Gewürzen, von denen wir uns bedienen konnten. Danach haben wir die unterschiedlichen Ergebnisse probiert und gemeinsam festgestellt, dass jede Version ihren eigenen Geschmack hatte und alles gut war! Ich war stolz, mit meinem ebenso ungeübten Partner ohne Anleitung etwas Leckeres hinbekommen zu haben, und froh, dass alle dazulernen konnten. Meine Ängste vor der unbekannten Gruppe waren danach viel kleiner und verschwanden mit jedem Treffen immer mehr. Jetzt traue ich mir auch zu, ein völlig neues Rezept auszuprobieren. Mit der Kochgruppe habe ich mir ein völlig neues Feld erobert. Darauf bin ich stolz und es macht mich froh.
Eva:
Als wir bei ME gefragt wurden, die Verantwortung für die Region Köln zu übernehmen, war ich besorgt, ob wir einen Regionaltag leiten und durch Impulse den Tag gestalten können, da ich mich früher mehr oder weniger erfolgreich davor gedrückt habe, Referate zu halten oder frei zu sprechen. Das Zutrauen vieler ME-Paare hat uns ermutigt und so haben wir mit Herzklopfen und auch Zweifeln JA zu der Verantwortung gesagt. Eine große Hilfe war für mich bei den Regionaltagen, dass wir den Impuls schriftlich fixiert hatten. So konnte ich mich an unserem Skript entlanghangeln, das mir Sicherheit gab. Und so konnte ich mich immer mehr aus der Deckung wagen und üben, frei zu sprechen. Auch wenn dies alles sehr anstrengend war, so fühlte ich mich nach jedem Treffen bestärkt, beschwingt und freier. Ich war stolz, es geschafft zu haben.
Was hilft mir, mit Angst vor Unbekanntem umzugehen
Eva:
Im Dialog kann ich meine Angst ausführlich beschreiben, sie mir selbst bewusst machen und vielleicht auch mit einem Bild Helmut die Dimension erklären.
Sein Verstehen, sein Nachfragen, sein Annehmen, vielleicht auch seine Unterstützung (wenn ich es wünsche) kann mir helfen, Mut zu fassen.
Im Gebet kann ich Gott meine Angst hinhalten. Corrie ten Boom sagt dazu: „Mut ist die Angst, die gebetet hat.“
Helmut:
Mein Gottvertrauen ist begrenzt. In meinem großen Bedürfnis nach Sicherheit wende ich viel Energie auf, Risiken abzusichern. Wenn ich „das Meine getan habe“ z.B. bei Corona mich informiert habe und mit meinem Verstand abgeschätzt habe, welche Risiken ich eingehen kann, muss ich doch letztlich auf Gott vertrauen. Ist meine Angst groß, versuche ich mit Gott einen „Deal“ auszuhandeln. Mit etwas mehr Mut kann ich ihm meine Angst einfach hinhalten und im Vertrauen auf ihn loslassen. Dies gelingt mir vor allem, wenn ich Ängste um Kinder oder Enkel habe und selbst nicht viel tun kann.
Eva:
Mir fällt es schwer zu sagen „ich habe Vertrauen ins Leben“, da ich das Leben als oft anstrengend empfinde und ich mir vieles erkämpfen musste. Dies so zu schreiben, macht mich betroffen und beschämt, da ich durchaus erkenne, dass mir auch sehr viel Schönes im Leben geschenkt worden ist. Dem ich am meisten vertraue, das bist du, Helmut. Auf dich kann ich mich ganz verlassen, du bist für mich da, stärkst mir den Rücken, möchtest mir Gutes tun. Obwohl du mich kennst mit meinen Fehlern und Schwächen, stehst du zu mir und das gibt mir viel Mut und Kraft. Beim Austausch ist mir auch bewusst geworden, dass mein Selbstvertrauen mit den Jahren gewachsen ist. Viele schwierige Situationen und Krisen habe ich schon bewältigt und dies gibt mir das Vertrauen, dass ich Neues, mir noch Unbekanntes ausprobieren kann.
Angst vor den Ängsten
Angst ist ein unangenehmes Gefühl und deshalb vermeiden wir Themen, die uns Angst machen. Dies geschieht z. B. wenn jemand aus Angst vor dem Tod seinen Nachlass nicht regelt.
Eva:
Ich will meine Angst vor einer schweren Krankheit nicht anschauen. Ich traue mich nicht, meine Patientenverfügung oder den Organspendeausweis auszufüllen, obwohl ich weiß, dass es für Helmut oder unsere Kinder eine große Hilfe im Ernstfall wäre. Ich fühle mich beklommen. Da ich keine Ahnung von der Medizin habe und mich diesbezüglich unsicher fühle, schiebe ich diese Entscheidung wider besseres Wissen auf.
Wie gehe ich damit um, wenn du mir von deiner Angst erzählst?
Helmut:
Wenn Eva mir von ihrer Angst erzählt, neige ich dazu, sie zu beschwichtigen und ihr die Angst „ausreden“ zu wollen. Das ist wie ein Reflex, ganz ohne nachzudenken. So ähnlich hat auch früher meine Mutter bei mir reagiert: „Du brauchst keine Angst zu haben!“ oder „Du bist doch mein großer, tapferer Junge!“ oder „Du kannst das doch!“. Beim Versuch Mut zu machen, ist die Absicht ja nicht falsch. Wenn ich aber bei Eva so reagiere, nehme ich ihr Gefühl und damit sie selbst nicht wirklich ernst. Dann bin ich mit ihr nicht auf Augenhöhe, sondern rede von oben herab. Wenn ich spontan so reagiere, bin ich hinterher mit mir nicht zufrieden. Ich bin beschämt, weil ich sie doch achten und ehren will. Wenn ich achtsamer bin, gelingt es mir aber auch, mich in ihre Angst hineinzuversetzen. Wenn ich ihr dann sage, dass ich ihre Angst verstehen kann, und nachfrage, was ihr helfen könnte, dann kann ich ihr auch zutrauen, die Situation zu bewältigen und ihr Mut machen. Daran übe ich noch!
Eva:
Bei den Überlegungen, ob wir uns mit den Kindern und ihren Familien nach Weihnachten treffen können, habe ich zum ersten Mal von Helmuts Angst gehört, sich mit Corona anzustecken und der Sorge, meine alten Eltern auch anzustecken. Ich war total erstaunt, da Helmut nur sehr selten seine Angst verbalisiert. Ich konnte es kaum glauben und habe direkt nachgefragt. Ich fühle mich bedrückt und auch unsicher, da ich dies nicht in mein Bild, das ich von Helmut habe, hineinpasst. Helmut ist doch mein Fels in der Brandung. Wenn der plötzlich wackelt, trifft das auch mein Bedürfnis nach Sicherheit.
Beim Austausch ist mir klar geworden, dass ich plötzlich Zuversicht und Mut für uns beide schöpfen kann, wenn ich um Helmuts Angst weiß.
Wir haben festgestellt, dass das Thema Angst ein sehr komplexes ist und viele Facetten hat. Je mehr wir uns mit diesem Thema beschäftigt haben, desto klarer wurde uns, dass wir die Entscheidung treffen können, uns von der Angst lähmen zu lassen oder daraus Kraft zu schöpfen, mit Mut und Vertrauen Neues auszuprobieren. Die Dialogfragen auf der Rückseite möchten euch helfen, eure Ängste miteinander anzuschauen.
Mit einem herzlichen Schalom
Eva & Helmut Schmiedel
Dialogfragen zum Thema Angst
- Was ist meine größte Angst? Wfim, wenn mir das bewusst wird? Wfim, wenn ich dir das anvertraue?
- Welches Thema, welchen Bereich in unserem Leben schaue ich aus Angst vor der Angst nicht an, z.B. Tod des Partners, Krankheit der Kinder? Wfim, wenn mir das bewusst wird? Wfim, wenn ich dir das anvertraue?
- Wie groß ist mein Bedürfnis nach Sicherheit? Wie sichere ich mich/uns (als Familie) ab? Wfim, wenn ich darüber nachdenke?
- Bei welcher Gelegenheit war ich mutig und habe trotz Angst Neues gewagt und sehe im Nachhinein, dass ich daran gewachsen bin? Wfim ich mich bei meiner Antwort?
- Gibt es in meinem Leben eine Situation oder eine Herausforderung, vor der ich mich immer drücke, weil ich Angst habe? Wfim, wenn ich jetzt darauf schaue und was könnte mir helfen?
- Wie gehe ich damit um, wenn ich deine Angst erkenne, du sie aber nicht aussprichst? Wfim, wenn ich auf mein Verhalten schaue?
- Wie gehe ich damit um, wenn du mir deine Angst mitteilst? Wfim, wenn ich auf mein Verhalten schaue?
- In der Bibel steht oft: „Fürchte dich nicht!“ Wie geht es mir mit dieser Zusage?
- Auf was/auf wen gründet mein Vertrauen in das Leben? Wfim, wenn mir das bewusst wird?
- Vertraue ich auf Gott? Wie sieht dieses Vertrauen aus? „Der Herr ist mein Hirte“ oder ganz anders?
- Ich erinnere mich an Ängste aus meiner Kindheit. Welche davon prägen mich bis heute? Wfim, wenn mir das bewusst wird?
Titelbild: Monika Weithmann-Kraus & Franz Kraus