2019/4 Lieben ist eine Entscheidung – Genuss

Mit diesem Thema schließen wir unsere diesjährige Themenreihe entlang des Weiterbildungswochenendes „Frei zum Leben“ ab. In diesem Wochenende wird nach Besitz und Macht die Sexualität behandelt. Wir haben uns für das umfassendere Thema Genuss entschieden, denn auch Guido Heyrbaut spricht in dem Interview „Die Glücksucher“ (auf der DVD Minute 56 bis 61) von „drei Motoren, die die Menschen zum Handeln antreiben, die die Menschen zu echtem Leben anregen“: Besitz, Macht und Genuss, „das sind die drei Motoren, um die es geht. Und wenn wir über unser Glück sprechen, also über glücklich werden können, dann wird das sehr abhängen von der Art und Weise, wie wir mit diesen drei Motoren umgehen.“

Zum Genuss sagt Guido: „Genießen, das braucht jeder, das ist der Atem unseres Lebens. Das ist der Augenblick, wo wir wiederum neu schauen können, neu zuhören, neugierig sind auf andere neue  Dinge.“ Und so steht auch in der Bibel bei Prediger 9, 7-9: „Iss freudig dein Brot und trink vergnügt deinen Wein, denn das, was du tust, hat Gott längst so festgelegt, wie es ihm gefiel. Trag jederzeit frische Kleider und nie fehle duftendes Öl auf deinem Haupt! Mit einer Frau, die du liebst, genieß das Leben alle Tage deines Lebens.“

Eva: „Genießen“ war in meinem Elternhaus kein Thema. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ war eine häufige Redewendung. Und Arbeit gab es eigentlich immer. Durch die Art und Weise, wie etwas Besonderes zelebriert wurde, spürte ich, dass meine Eltern es genossen, wenn wir z. B. in Frankreich in Urlaub waren und dort in einem Restaurant essen gingen, aber dass es ein Genuss war, wurde nicht verbalisiert. Genießen habe ich erst spät kennengelernt, etwa wenn unsere Nachbarin mit einem Tee zum Spielplatz kam und sagte, „den genießen wir jetzt erst mal, das gönnen wir uns jetzt.“ Es sind besondere Momente im Alltag, die für mich mit Genuss verbunden sind. Immer wieder muss ich mich dann  bewusst zum Genießen entscheiden und die Pflichten zurückstellen.

Helmut: Genuss erlebe ich nicht nur in den ganz besonderen Momenten, sondern auch in meinem Alltag. Ich finde immer etwas, das ansteht, an dem ich Freude habe, wozu ich Lust habe und das ich genieße. Wenn sehr viel Arbeit ansteht, dann suche ich mir etwas heraus, was mir gerade leicht von der Hand geht. Ich tue mir Gutes, wenn ich ganz darin aufgehen kann und anderes weitgehend ausblende. Ich erlebe dann das, was man mit „Flow“ bezeichnet. Das kann ich auch bei etwas so Banalem erleben wie Rasenmähen oder Abwascherledigen. Anschließend gehen mir dann auch ungeliebte Aufgaben leichter von der Hand.
Beim Austausch hat uns zunächst unsere große Unterschiedlichkeit bei der Verwendung der Begriffe Genuss und Lust Schwierigkeiten bereitet und wir haben länger gebraucht, um einander diesbezüglich zu verstehen und damit annehmen zu können.

Im Zeitungsteamwochenende, an dem wir uns mit diesem Thema beschäftigt haben, haben wir viele Beispiele zusammengetragen, wie wir Genuss mit allen Sinnen erleben können: wir sehen tolle Landschaften, Blumen, Gemälde; wir riechen den Duft von Kaffee, leckerem Essen, diverse Kräuter; wir hören das Vogelgezwitscher, die Musik, das Meeresrauschen; wir schmecken den fruchtigen Wein, die unterschiedlichen Gemüse, die Zigarette und last but not least spüren oder fühlen wir die Zärtlichkeiten, die körperliche Nähe in der Sexualität, unseren Körper bei Bewegung und Sport. Ja, auch der sechste Sinn ermöglicht uns „geistigen Genuss“ von Literatur, Kunst und Musik oder das Empfinden, von Gott berührt zu sein.
Zum Genießen brauchen wir Zeit! Wenn wir einen Kaffee im Stehen oder to go zu uns nehmen, schmeckt er sicherlich anders als wenn wir uns gemütlich in den Sessel setzen und ihn in Ruhe trinken können. Ich brauche auch nicht eine ganze Kanne Kaffee trinken, sondern ich trinke diese eine Tasse Kaffee ganz bewusst und achtsam. Für den einen ist es der Kaffee, für andere ein Gläschen Wein am Abend: jede/r kann ausprobieren, was ihm guttut und dann für sich entscheiden.

Eva: Dass zum Genießen können auch Beschränkung gehört, ist mir deutlich geworden, als ich unter Anleitung mit einer Diät angefangen hatte. Zu Beginn machten wir eine Achtsamkeitsübung, in dem wir uns eine Rosine ganz genau angeschaut, an ihr gerochen und dann schließlich ganz langsam aufgegessen haben. Dieses bewusste Verkosten war für mich eine wichtige Erfahrung, da ich früher aus Langeweile oder Frust auch schon einmal eine ganze Tafel Schokolade verputzen konnte. Aber in dieser Zeit des Verzichts wurde plötzlich ein Stück Schokolade, eine Kugel Eis oder ein kleines Stück Kuchen zu etwas ganz Besonderem! Ich habe gelernt, langsamer zu essen und habe tatsächlich dadurch intensiver geschmeckt. Darüber bin ich sehr froh und es bestärkt mich, nicht wieder in mein altes Muster zu fallen.

Helmut: Genuss birgt für mich die Gefahr einer Sucht. Ich kann nicht genug davon bekommen. So ist ein Glas Wein auf der Geburtstagsfeier ein Genuss und wenn ich nicht Auto fahren muss, schmecken die nächsten auch sehr lecker. Aber irgendwann wird es Zeit, Stopp zu sagen, damit der Genuss bleibt und nicht der Kater am nächsten morgen kommt. Ich ärgere mich darüber, dass mir dieses rechtzeitige „Stopp“ manchmal schwerfällt. Andererseits bedeutet Genuss einer Sache doch auch Verzicht auf andere Genüsse. Alles gleichzeitig genießen ist unmöglich, da zum Genuss die ungeteilte Aufmerksamkeit gehört. So kann die Begrenzung eines Genusses durch Verzicht auf mehr auch die Vielfalt des Genießens erhöhen. Dieser Gedanke motiviert mich und macht mich frei. Johann Wolfgang von Goethe schrieb:

„Wenn wir immer ein offenes Herz
hätten, das Gute zu genießen, das uns
Gott für jeden Tag bereitet, wir würden
alsdann auch Kraft genug haben, das
Übel zu ertragen, wenn es kommt.“

Wenn wir abends einander die 5 Dinge aufzählen, für die wir dankbar sind, dann machen wir uns bewusst, was wir genießen können – jeden Tag. Besonders schön ist es aber, wenn wir das in dem Moment erkennen und genießen und nicht erst im Nachhinein. So haben wir das auf unserem Jakobsweg an vielen Tagen erlebt. Obwohl der Weg teilweise sehr anstrengend war und das Wetter nicht immer unseren Wünschen entsprach, waren wir sehr aufmerksam, haben Kirchen, Blumen, Landschaft, Gespräche und Begegnungen genossen. Dies hat uns motiviert, weiter zu gehen.
Ein Sprichwort sagt: „Wer nicht genießen kann, wird ungenießbar.“
Wie schön ist es dagegen, Menschen zu erleben, die genüsslich leben. Sie machen den Eindruck, dass sie mit sich und der Welt im Reinen sind. Genießen darf ich alleine, aber auch mit meinem Partner / meiner Partnerin, denn geteilter Genuss ist doppelter Genuss.

Helmut: Wenn ich an unser gemeinsames Genießen denke, fällt mir als erstes das Tanzen ein, besonders der langsame Walzer. Das geht ja auch gar nicht alleine und zusammen nur gut, wenn wir miteinander in Einklang sind. Dann aber ist es für mich der wahre Genuss mit vielen Sinnen: hören der Musik, Bewegung, einander spüren. Ich fühle mich dann ausgelassen und glücklich. Wenn ich mir das jetzt vorstelle, freue ich mich nochmal extra auf das nächste Fest. Auch wenn wir beide Bücher lesen, ist dies für mich ein gemeinsamer Genuss. Zwar lesen wir oft sehr unterschiedliche Literatur, aber es ist anders und schöner, wenn wir gleichzeitig am gleichen Ort lesen. Ich kann mich dann entspannter in die andere Welt des Buches einlassen, wenn ich spüre, dass auch du in deinem Buch abtauchst. Es tut mir dann auch gut, wenn wir wieder gemeinsam auftauchen und einander im Hier und Jetzt begegnen. Ich bin dann zufrieden und fühle mich zu Hause.

Eva: Neben gemeinsamen Hobbys (z.B. Tanzen, Wandern, Radfahren) genießen wir auch unsere alltäglichen kleinen Rituale wie das gemeinsame gemütliche Frühstück, unseren Austausch beim Cappuccino oder unser Kuscheln abends vor dem Einschlafen und morgens direkt nach dem Aufwachen Diese zärtlichen Momente schenken uns besondere Nähe. Angenehm überrascht bin ich, wie uns der Übergang in den Ruhestand gelingt. Wir haben viel mehr gemeinsame Zeit und es gelingt uns, diese zu genießen, ohne uns gegenseitig auf den Wecker zu fallen. Ich fühle mich beschwingt und zufrieden. Wir wünschen euch viel Freude, wenn ihr mit den Dialogfragen den Genuss in eurer Beziehung zu eurem Thema macht.
Schalom
Eva & Helmut Schmiedel


Dialogfragen
  • Welche Erfahrungen habe ich mit Genuss in meiner Kindheit und Jugend gemacht? Wie hat mich das geprägt? Wfim, wenn ich daran zurückdenke?
  • Ist Genuss Bestandteil in meinem alltäglichen Leben? Was genieße ich dabei? Wfim, wenn ich darüber nachdenke?
  • Johann Wolfgang von Goethe schrieb: „Wenn wir immer ein offenes Herz hätten, das Gute zu genießen, das uns Gott für jeden Tag bereitet, wir würden alsdann auch Kraft genug haben, das Übel zu ertragen, wenn es kommt.“ Wie erlebe ich das konkret? Wfim dabei?
  • Was können wir gemeinsam genießen? Wfim, wenn ich mir das bewusst mache?
  • Wie erlebe ich es, wenn ich etwas als Genuss empfinde und du dies nicht nachempfinden kannst? Wfim, wenn ich dir das schreibe?
  • Mit welchem meiner Sinne bin ich besonders empfänglich für Genuss? Wfim, wenn ich dir davon erzähle?
  • Wfim, wenn ich mir bewusst mache, dass zum Genießen können auch Achtsamkeit und Beschränkung gehört?
  • Was brauche ich, um das Schöne in meinem Leben zu erkennen und zu genießen? Wie kannst du mich dabei unterstützen? Wfim bei meiner Antwort?

Titelbild: Monika Weithmann-Kraus und Franz Kraus